Retail Apocalypse
26. Februar 2020 – 15. Mai 2020
Eröffnung: Dienstag, 25. Februar 2020, 18 Uhr
Mit einer Begrüssung von Philip Ursprung und einer Einführung von Fredi Fischli und Niels Olsen, Janina Gosseye, Adam Jasper und Mark Lee.
gta Ausstellungen, ETH Zürich, Hönggerberg
Vollständige Ausstellungsdokumentation: https://retailapocalypse.gta.arch.ethz.ch/
Canadian Centre for Architecture
15. April 2022 – 15. Januar 2023:
https://www.cca.qc.ca/en/events/81876/retail-apocalypse
Die Recherchen für die Ausstellung wurden durch die Erkenntnis ausgelöst, dass «Shopping» Geschichte ist – dass es sich nicht nur um eine Praxis handelt, die historisierbar ist (denn welche Praxis ist es nicht?), sondern dass die physischen, kommerziellen und sozialen Praktiken, die sich lange zu einem einheitlichen Feld zusammenfügten, sich nun vielleicht unumkehrbar voneinander getrennt haben. Wir alle kennen die Prophezeiungen, die städtische Passage werde im 20. Jahrhundert dem suburbanen Kaufhaus weichen und der Flaneur im Zuge der Verbreitung des Automobils verschwinden. In jüngster Zeit befinden wir uns jedoch in einem noch radikaleren Wandel. Während sich der Grossteil der Einkäufe auf digitale Plattformen verlagert, treten die Bahnhofstrasse, die englische High Street oder die Main Street in den Kleinstädten der USA in eine Zeit ein, die man als Endphase bezeichnen könnte. Die Ausstellung Retail Apocalypse untersucht die Geschichte der Retail-Architektur. Mit theoretischem Rückbezug auf Frederic Jamesons These, dass die Postmoderne nichts anderes sei als die kulturelle Logik des Spätkapitalismus, erforscht sie, wie die frühen 1970er Jahre eine neue Ära markierten, in der die Kultur im Allgemeinen in die Warenproduktion integriert wurde. Die Ausstellung blickt zurück auf das Kaufhaus Le Bon Marché, wie es Félix Vallotton im späten 19. Jahrhundert dargestellt hat, Friedrich Kieslers Publikation Contemporary Art Applied to the Store and Its Displayvon 1930, Gae Aulentis Schrägauslagen für Fiat in Zürich oder die Best-Stores von SITE als exemplarische Beispiele der Postmoderne. Das Einkaufen ist, wie Rem Koolhaas in Harvard Guide to Shopping argumentierte, zur letzten verbleibenden Form der öffentlichen Aktivität geworden. Diese bahnbrechende Studie wurde vor fast zwei Jahrzehnten veröffentlicht, während sich das Shopping in der Zwischenzeit sogar noch drastischer verändert hat.
Im 20. Jahrhundert war das Einkaufen ein wesentlicher Katalysator für die Stadtplanung. Aber welche Rolle spielt das Einkaufen in den Städten von heute? Um polemisch zu sein, könnte man mit der Dead Mall (dem gescheiterten Einkaufszentrum oder „big box store“) auf der einen Seite und dem Flagship Store auf der anderen Seite beginnen. Welchen Wert hat die brutale materielle Tatsache der Dead Mall für zeitgenössische Architekten? Welches Potential bietet der Zustand der Nutzlosigkeit? Das Veralten des Einkaufszentrums, das schonungslos durch sein Programm diktiert wird, bietet der Architektur gewisse Freiheiten, die einer Art von Autonomie gleichen oder sie sogar konstituieren. Im Gegensatz dazu bleiben die Flagship Stores weiterhin lebendig, obwohl sie nicht unbedingt für das Einkaufen an sich notwendig sind. Sie dienen als Branding von Luxusgütern. Ihre semiotische Funktion als Signifikanten führt zu einer immer stärkeren Differenzierung, wenngleich sie zu einer Art allgemeiner globaler Wohlstandskultur beitragen. Viele der renommiertesten Architekten und Architektinnen von heute haben ihr architektonisches Knowhow in den Retail eingebracht. Man denke an die Verbindung von Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas mit Prada, an die zahlreichen Luxusgeschäfte von David Chipperfield, an die Laufstege von Smiljan Radić für Celine oder seinen jüngsten Entwurf für Alexander McQueen und an die Luxus-Shopping-Mall von David Adjaye in Beirut – um nur einige wenige zu nennen.
In kleinerem Massstab dringt die bildende Kunst in die Architektur des Einzelhandels ein, insbesondere im Hinblick auf die Präsentationsformen. Franco Albini und Franca Helg sowie Carlo Scarpa wandten bei ihren Aufträgen für Olivetti das an, was sie aus beiden Bereichen gelernt hatten, und waren wegweisend für eine Geschichte der Zusammenarbeit von Künstlerinnen, Architekten und Designerinnen in der Gestaltung von Boutiquen. Ein weiteres beeindruckendes, wenn auch wenig bekanntes Beispiel sind Dominique Gonzalez Foersters über hundert Interieurs für Balenciaga – eine Art verborgenes Œuvre der Künstlerin. Zeitgenössische Kollektive und Marken wie Telfar oder Hood By Air nutzen den kommerziellen Bereich und insbesondere die Mode als Raum für einen politischen Diskurs ausserhalb der Kunstinstitution, um Vorstellungen von Gender, Klasse und Wert zu thematisieren und in Frage zu stellen. Angesichts der zunehmenden Kommerzialisierung des institutionellen Raums verspricht der tatsächliche Raum des Retail ein Potential zur Subversion – Sturtevants The Store of Claes Oldenburg von 1967 dient als historisches Vorbild für diese Form der Praxis in der Ausstellung.
In der Ausstellung wird die Frage reflektiert, wie der Wert der architektonischen Oberfläche oder Sprache bestimmt wird. Die architektonische Form ist Teil einer wirtschaftlichen Realität und schafft einen Mehrwert. Der künstlerische Ausdruck – im Wesentlichen die Oberfläche – ist daher keineswegs kommerziell unschuldig, wie die Umsetzungen im Einzelhandel zeigen. Die Architektur erweist sich als ein Motor der Verführung, der den Konsum und die Logik des Kapitals antreiben soll. Einige Schriftsteller und Autorinnen, die sich mit dem Verhältnis von Architektur und Wert auseinandergesetzt haben, bilden in der Ausstellung einen literarischen Gegenpol: J. G. Ballards Roman Kingdom Come über Gewalt und Konsum orientierten Materialismus, Natasha Staggs Buch Surveys, in dem die Protagonistin ihren Job im Einkaufszentrum aufgibt, um eine digitale Influencerin zu werden, oder Janina Gosseyes und Tom Avermaetes Studie, die den Einfluss der Shopping Mall auf die Hoch- und Popkultur untersucht.
Kuratiert von Fredi Fischli und Niels Olsen (ETH Zürich) in Kooperation mit Mark Lee (Harvard University Graduate School of Design)
Fotos: Nelly Rodriguez